Pilgern in der Antike

Schon die frühen Christen suchten die wichtigen Stätten der biblischen Überlieferung auf, Orte wie das Grab Christi oder die Begräbnisstätten der Apostel. Eusebius v. Caesarea (um 263-339) benennt in seinem Werk „Onomastikon“ diese damals noch bekannten oder in römischer Zeit neu lokalisierten Orte der biblischen Geschichte und beschreibt deren Lage mit Hilfe des römischen Straßensystems. Die Mutter von Kaiser Konstantin, Kaiserin Helena (259-329) pilgerte zu den Stätten im Heiligen Land, fand das Kreuz Christi, sowie einige Nägel und die Tunika Christi und brachte sie als wichtige Reliquien von ihren Reisen mit nach Rom und Trier. In den Jahren 381-384 reiste die spanische Nonne Egeria nach Jerusalem und von dort aus zu vielen Orten der Bibel. Sie verfasste als erste Frau einen Pilgerbericht, in dem sie die Orte, die ihr gezeigt wurden, genau beschreibt.

Frühes Mittelalter: Jerusalem, Rom und Santiago

Vom 5. bis weit ins 12.Jh. zogen irische Wandermönche mit Pilgerstab und Heiliger Schrift durch Europa und gründeten Kirchen und Klöster. Sie wollten neue Wege finden, „heimatlos sein um Christi Willen“ und Europas Mitte missionieren. Etliche heute noch existierende Pilgerwege und –orte verdanken wir diesen frühmittelalterlichen Missionaren, so z.B. Bonifatius, Kilian, Korbinian, Virgil, Wendelin, Willehad und Willibrord.

Im Mittelalter gab es drei große Pilgerziele, die ein Christ in seinem Leben erreichen konnte: Jerusalem, Rom und Santiago di Compostela. Diese „klassischen Pilgerwege“ waren mit entspr. Pilgerzeichen ausgestattet: der „Camino de Santiago“ mit einer Muschel, die Via Francigena (nach Rom) mit einem Schlüssel und der Pilgerweg nach Jerusalem mit einem Kreuz.

1096 begann ein Zeitalter von besonderen Pilgerreisen: der 1.Kreuzzug führte nach Jerusalem, wo sich grausame Schlachten gegen die „Ungläubigen“ abgespielt haben. Im Jahr 1099 wurde die Stadt Jerusalem erobert. Der Orden der Tempelritter wurde gegründet, um den Pilgern von nun an gefahrlos den Besuch der Heiligen Stätten der Christenheit zu ermöglichen. Nachdem Jerusalem 1244 für die Kreuzfahrer verloren war, wurde es für Christen unmöglich, zum wichtigsten Wallfahrtsziel Jerusalem zu pilgern, um einen „vollkommenen Ablass“ zu erlangen. So orientierten sich die Pilger vermehrt nach Rom, den geistigen Mittelpunkt des Abendlandes und nach Santiago, wo zur selben Zeit die erste große Pilgerkathedrale entsteht. Papst Bonifatius VIII. eröffnete im Jahr 1300 das erste Heilige Jahr in Rom, verbunden mit einem vollkommenen Sündenablass und ahmte damit das Beispiel Santiagos nach, dessen Heiliges Jahr erheblich älter ist.

Schlechte Wege und ungewisse Weggenossen

Rechtlos und in der Fremde

Wirtschaftlicher Aufschwung durch die Pilger

Das noch aus römischer Zeit stammende Wegenetz war im 12.Jh. relativ verfallen, deshalb wurden die noch existierenden Wege jetzt ausgebessert, Brücken gebaut und das Straßennetz erweitert. Dennoch sind die Straßenverhältnisse im 13.Jh. eher als „sehr bescheiden“ zu betrachten. Je nach Wetter und politischen Gegebenheiten mussten Wartezeiten oder längere Umwege in Kauf genommen werden.

Das Wegenetz war bei weitem nicht so gut und nicht so bekannt wie heute. Es gab zwar Wegbeschreibungen, aber meistens musste man sich von Ort zu Ort weiterfragen. Räuberische Banden machten die schlechten Pfade und Wege zudem unsicher. Oft fanden sich daher an Knotenpunkten und größeren Städten am Pilgerweg, in denen Pilgerherbergen und Hospize entstanden, Pilgergruppen zusammen, die dann wie eine Expedition gemeinsam weiterzogen.

So vielfältig die Gründe für die Pilgerfahrt heute wie damals sind, so verschieden waren auch schon immer die Menschen, die unterwegs sind. Man konnte einer Frau begegnen, die durch die Pilgerfahrt einer unliebsamen Vermählung entkommen wollte, einem Sünder, der um Abbitte für seine Sünden unterwegs war, aber auch einem Sträfling, der zur Pilgerfahrt verurteilt worden war. Es gab sogar „Berufspilger“, die für jemand anderen „bis ans Ende der Welt“ gingen – für Bezahlung oder als Frondienst. Für Adelige und Herrscher konnten auch politisch motivierte Gründe für eine Pilgerreise sprechen und seien es nur Prestigegründe.

Das Reisen damals war alles andere als bequem. Ein reicher Mensch konnte die Reise meist zu Pferd bewältigen, aber die Mehrheit war zu Fuß unterwegs und auf Mildtätigkeit und gutes Schuhwerk angewiesen. Nicht selten musste in größeren Orten eine längere Rast eingelegt werden, um wieder zu Kräften und vor allem zu neuen finanziellen Mitteln zu kommen. In Köln hat sich bis heute für die Kellner in den Bierstuben die Bezeichnung „Köbes“ gehalten, die von den dort arbeitenden Jakobus-Pilgern stammt.

Schneller und auch bequemer als die Wege über Land waren häufig die Wege über Wasser. Sie waren nicht nur ungefährlicher als Landreisen – man konnte innerhalb eines Tages auch eine größere Entfernung zurücklegen.

„Peregrinus“ lässt sich nicht nur mit Pilger übersetzen, sondern auch mit „Fremder“ – und ein Fremder war jeder Pilger, sobald er seine engere Heimat verließ. In früheren Zeiten noch stärker als heute, da die eingeschränkte Mobilität nur einen sehr engen räumlichen Umkreis als bekanntes Terrain zuließ. Der Pilger begab sich außerhalb seiner Familie und seines angestammten Ortes, was zugleich Verzicht auf Rechtssicherheit und Rückhalt im sozialen Verband bedeutete. Ein Geleitbrief des ortsansässigen Pfarrers oder Bischofs, der dem Pilger weitgehend ungehindertes Reisen ermöglichte und ihn auch offiziell als wahren Pilger auswies, war zwingend erforderlich. Auch heute noch müssen Jakobspilger anhand eines abgestempelten Passes nachweisen, welchen Weg sie zurückgelegt haben, um in den Pilgerherbergen und Hospizen übernachten zu können.

Beim Entschluss zur Pilgerschaft verließ der Pilger nicht nur seine Heimat, sondern auch seinen ganzen Besitz, sein Gewerbe, seine Familie. Es war ungewiss, ob er je wiederkommen würde, wann dies sein würde, und ob er dann noch etwas von dem vorfinden würde, das er jetzt zurückließ. Es war vorgeschrieben, dass jeder Pilger sein Testament gemacht haben musste, bevor er losging.

Alles, was der Pilger an Habseligkeiten mitführte, waren ein breitkrempiger Hut, ein Umhang, “pelerine“ genannt, eine Tasche oder Beutel für seinen Proviant und ein mannshoher Stock als Stütze. Verschiedene Abzeichen machten Herkunft oder Ziel seiner Reise erkennbar.

Zahlreiche Verständigungs- und Versorgungsprobleme mussten bewältigt werden in einer Zeit, in der alles Fremde mit Misstrauen betrachtet wurde. Im Jakobuslied wird sogar geraten, vor der Abreise noch einmal zu beichten, denn „kommst du in ein welsches Land, du findst kein teutschen Priester!“.

An den Pilger- und Handelswegen entstanden neben Hospizen und Stiften, wo Pilger unter Vorlage ihres Empfehlungsschreibens aufgenommen und verpflegt wurden, Kirchen und Kathedralen. Daneben entwickelten sich auch zu bezahlende Pilgerunterkünfte: Gaststätten, Herbergen und Tavernen, die „privat“ ihr Geschäft betrieben.

Um die Pilger so lange wie möglich in ihrem Ort zu halten, bot jede Ortschaft, die was auf sich hielt, den mittelalterlichen „Touristen“ neben Unterkunft, Verpflegung und medizinischer Versorgung auch immer mindestens eine Reliquie an. Dies kam dem Wunsch der Pilger entgegen, auf ihrer beschwerlichen Reise so viel als möglich an Heiligengräbern und Heiltümern zu sehen, die für das Seelenheil von Vorteil waren. Ein Nebeneffekt dabei war, dass es auch vermehrt zu Reliquiendiebstahl kam, um (auch) neue Pilger- und Wallfahrtsstätten und den damit „automatisch“ verbundenen Wohlstand der eigenen Örtlichkeit zu etablieren.

Im 15.Jh. wurden sog. Gnadenjahre eingeführt, in denen ein vollkommener Ablass gewährt wurde. Wer sich auf diese Pilgerreise begab, dem wurden Sünden erlassen; wer ums Leben kommen sollte, dem war das Himmelreich sicher. Solche Sündennachlässe konnten vor Ort erworben werden und waren neben den Reliquien für jede Gemeinde eine Attraktion.

Zwischen Reformation und Säkularisation

Die erste schwere schwere Krise des Pilgerwesens gab es in der frühen Neuzeit, verursacht durch die Reformation und die daraus folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen. Reisen war nicht mehr sicher, je nach Landesherr durfte man katholische Glaubenspraktiken nicht ausüben.

Auch das verstärkte „Strafpilgern“ im ausgehenden Mittelalter ließ das Benehmen unter Jakobspilgern und die Sitten auf dem stark frequentierten Pilgerweg verrohen. 1589 wurden die Gebeine des Heiligen Jakobus schließlich aus Furcht vor einem englischen Angriff vergraben und erst 200 Jahre später wieder entdeckt. Dies brachte die Wallfahrt fast zum Erliegen.

Im Zeitalter der Aufklärung kam es zu einer Art „Entchristlichung“. Man versuchte, sich von althergebrachten, starren und überholten Vorstellungen, Vorurteilen und Ideologien zu befreien und eine Akzeptanz für neu erlangtes Wissen zu schaffen. Reliquienverehrung und Ablasspraxis wurden abgelehnt.

Das religiöse Leben der römisch-katholischen Kirche wurde erst wieder gestärkt durch die Gegenreformation. Allerdings blieben Wallfahrten beschränkt auf den näheren Umkreis. Prozessionen und Kreuzgänge fanden rund um die jeweilige Ortskirche statt, Wallfahrten führten zu Stätten innerhalb der eigenen Landesgrenzen. Ein erneuter Aufschwung des Pilgerns fand wieder statt. Die Zahl der Pilgerstätten und Wallfahrtsorte wuchs im konfessionell gespaltenen Europa entsprechend an.

Bedingt durch die französische Säkularisation an der Wende zum 19. Jh. war die karitative Infrastruktur auf dem camino beinahe völlig aufgelöst.

Pilgern mit politischen Inhalten

Ende des 19. Jh. schossen in ganz Europa zahlreiche Marienwallfahrtsorte aus dem Boden, die ein neues Wallfahrtsfieber ausbrechen ließen. Nicht nur in Fatima 1917 enthielten die Botschaften Mariens politische Mahnungen zu Umkehr und Frieden und zur Bekehrung vor allem der kommunistischen Länder.

Im 20. Jh. wurden Pilger- und Wallfahrten auch zu Demonstrationen gegenüber totalitären Regimen genutzt: So versammelten sich z.B. 1937 etwa 800.000 Menschen in Aachen zur Ausstellung des Heiligen Rockes, und auch die Wallfahrt nach Tschenstochau wurde nach dem 2. Weltkrieg zu einer Pilger-Demonstration des Freiheitswillen der Polen (mit den bekannten Erfolgen).

Nach dem Tode von General Franco 1978 erregte das Grab des Heiligen Jakobus wieder internationales Interesse. Papst Johannes Paul II reiste im nun demokratischen Spanien 1982 (einem Heiligen Jahr), nach Santiago de Compostela. König Juan Carlos I betete am 30.12.2003 – einen Tag vor Eröffnung der Puerta del Perdón – im Namen aller Spanier ein Gebet, das den Wunsch enthielt, dass durch die Fürsprache des Hl. Jakobus ein „gedeihliches Zusammenleben“ zwischen Völkern und Religionen möglich sein solle.

Pilgern heute: Trend ohne Wende

Seit einigen Jahren werden mit Hilfe von historischen Karten die alten Verläufe der Pilgerwege weitestgehend rekonstruiert und neue Pilgerwege erstellt, dessen Anfang und Ende sowie einzelne Wegabschnitte mit den historischen Wegen übereinstimmen könnten. Zusätzlich werden Radfahrer-Wegvarianten eingerichtet, die parallel zur Fußstrecke verlaufen und sich bei Radpilgern ebenfalls großer Beliebtheit erfreuen.

Auch die deutschen Veranstalter von Pilgerreisen nennen zweistellige Zuwachsraten, Touristikverbände entdecken den Weg zu sich als Standortvorteil. Vorträge über den Jakobsweg sind ausverkauft, die Verlage bringen einen Pilgerratgeber nach dem anderen heraus. Manche Klöster sind auf Monate hin ausgebucht, bei Lebensfragen sind Mönche plötzlich wieder gefragte Ratgeber. Pilgerreisen sind seit 20 Jahren im Trend, der „Camino“ ist in aller Munde… Überall in Europa lebt das Pilgern wieder auf. Sogar evangelische Christen, von der Tradition des Wallfahrens nur mäßig geprägt, entdecken das Pilgern für sich und erfahren auf einem Pilger-Weg, einer mystischen Reise neue Wege christlicher Spiritualität. (z.B. Ökumenischer Pilgerweg)

Früher wie heute: Wer pilgert, durchläuft unentdeckte irdische und geistliche, alte, vergessene oder verleugnete Räume…. Und „so ganz nebenbei“ engagiert sich jeder Pilger auch in Sachen Völkerverständigung, durch die Begründung internationaler Weg-Gemeinschaften: Kurz gesagt, „Pilgern“ ist wohl auch heute in all seinen Variationen zu betrachten…

Die Grenzen zwischen Pilgern und Touristen verschwimmen ebenso wie die Grenzen und Möglichkeiten des Camino oder einer Via XY. Ob sich jemand aus Gründen spirituellen Erlebens oder doch eher aus sportlicher Herausforderung auf den Weg gemacht hat – ausnahmslos war bislang jeder, der seinen Weg gegangen ist, danach ein anderer Mensch.