Pilgererfahrungen sind so unterschiedlich wie die Menschen, die sich auf den Weg gemacht haben. Obwohl zwei Pilger miteinander denselben Weg gehen, macht jeder seine eigenen Erfahrungen. Das hängt vom eigenen spirituellen Background genauso ab wie vom momentanen Lebensgefühl und der Situation, in der man sich auf den Weg macht. Jeder deutet Erfahrungen und Begegnungen anders. Und doch gibt es Muster, Begebenheiten, die einem immer wieder begegnen und widerfahren. Auf diese möchte ich kurz eingehen.
„Nehmt mein Joch auf euch, denn mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht(?)“ (Mt 11,29-30)
Der Pilgerrucksack ist zum einen natürlich das Behältnis für alles, was man unterwegs braucht. Bei einer kurzen Wallfahrt von drei Tagen kann der sehr klein sein. Wenn man sich für Wochen oder gar Monate auf den Weg macht, muss gut geplant sein, was man tragen will und kann. Es ist erstaunlich, mit wie wenig man auskommen kann (zwei Garnituren Wanderwäsche, eine Garnitur „saubere“ für abends, Regensachen, ein Ersatzpaar Schuhe). Wenn man dann am Ende seines Weges angekommen ist und die Aussicht auf einen vollen und sauberen Kleiderschrank hat, versteht man, was Luxus bedeuten kann.
Das Pilger-“Gepäck“ besteht aber nicht nur aus den Dingen des alltäglich notwendigen Bedarfs. Sorgen, Anliegen, manche Gedanken und Befürchtungen belasten zusätzlich die Schultern des Pilgers. Und sie wiegen oft erheblich schwerer als die 10 kg Rucksack. Wie gut tut es, wenn man am Ziel des Weges, dieses „Gepäck“ ablegen kann, es Maria, Gott oder zu wem auch immer man unterwegs war, zu Füßen legen kann und darauf vertrauen, dass der Rückweg und der weitere Weg voran jetzt leichter wird.
Was Schultern alles tragen müssen / können, erfährt man früher oder später auf jeder Pilgerreise. Und in den allermeisten Fällen wird man am Ende staunen, was man alles (er)tragen kann, mit der Gewissheit: Gott stärkt mir den Rücken, er trägt meine Last mit.
„… da murrte das Volk gegen Mose und sagte: Was sollen wir trinken?…“ (Ex 15,24)
Negative Erfahrungen, Durststrecken und Niederschläge (im wahrsten Sinne des Wortes) erschweren den Weg. Gerade auf längeren Pilgerwegen taucht täglich die Frage nach dem Dach über dem Kopf für die nächste Nacht auf. Gibt es eines oder muss im Freien übernachtet werden? Hat die Herberge noch Platz für mich? Wie weit muss ich heute gehen? Wenn es entweder nach 18 oder erst nach 45 km ein Quartier gibt, stellt mich das vor eine existenzielle Entscheidung.
Auch die Suche nach dem nächsten Wegweiser oder die Feststellung, dass man sich verlaufen hat und zurück muss, sind Krisen, die Ärger, Wut und Verzweiflung aufkommen lassen. Dauerregen über mehrere Tage und körperliche Beschwerden wie Blasen zermürben zusätzlich. Nicht selten stellt man sich die Frage: „Um Gottes willen – warum tu(st) ich(du) mir das an?“
„… er setzte sich unter einen Ginsterstrauch… und sagte: Es ist genug, Herr…“ (1Kön 19,4)
Und dann gibt es die Momente, wo es genug ist, wo man nicht mehr weiter kann. Dann bleibt man einfach am Straßenrand sitzen oder liegen und fühlt sich wie Elija. „Wie viele Glieder habe ich eigentlich, die noch weh tun können? Es war doch eine Schnapsidee, diesen Weg zu gehen. Ich schaffe es ja doch nicht.“ Nicht weniger schlimm entpuppen sich Krisen im Miteinander zwischen Pilgern, die gemeinsam auf dem Weg sind. Es ist nicht einfach, in den anderen hineinzuschauen, selbst wenn man ihn schon 200 km an seiner Seite hat. Unverständnis für die seelischen Zweifel, die einen plagen, das Nicht-Mitvollziehen-Können der körperlichen Erschöpfung oder auch Ärger darüber, weil einen der andere in seinen eigenen Plänen aufhält, erschweren den gemeinsamen Weg massiv.
“ Sie waren unterwegs in ein Dorf namens Emmaus…“ (Lk 24,13)
Weggemeinschaft kann zugleich schön und schrecklich sein. Der Weg verbindet Menschen miteinander, gibt ein gemeinsames Ziel. Das Schritttempo trennt gemeinsam Pilgernde, wenn es dem einen zu langsam geht und der andere überfordert wird. Die Sprache verbindet, gerade dort, wo man sich gemeinsam auf Wege im Ausland begibt oder dort Pilger aus dem eigenen Land trifft. Die Masse trennt die Pilger voneinander, denn wenn man einer unter Millionen ist, verliert sich alles Individuelle der anderen und man fühlt sich nur noch fremd.
Gespräche ergeben sich (fast) von selbst, denn schließlich ist man auf einem Pilgerweg unterwegs, der zu einem gemeinsamen Ziel ührt. Woher kommst du? Warum gehst du? Was hast du erlebt? – dagegen sind persönliche Dinge aus dem Alltag eher uninteressant. Und trotzdem sind Schweigen und Stille alltägliche Wegfreunde, wenn man mit sich selbst beschäftigt ist oder sich einfach nichts mehr zu sagen hat.
„…bleib doch bei uns, denn es wird bald Abend…“ (Lk 24,29)
Eine der schönsten PIlgererfahrungen ist es, in einem Quartier freundlich aufgenommen zu werden und Gastfreundschaft zu erfahren. Ohne Ansehen der Person, nur weil man unterwegs ist, ohne Nachfragen und oft gerade ganz unvermittelt dann, wenn sich eine Notsituation abzeichnet, weil sich keine Unterkunft finden will. Die Erfahrung, an eine fremde Tür anzuklopfen und die weit geöffnet zu bekommen, ist ein reiches Geschenk, das man nicht genug schätzen kann. Egal ob das Schlaf im Stroh in der Schweiz, die vermittelte Ferienwohnung in Tschechien oder die Unterkunft bei den Niederbronner Schwestern in Frankreich war, die auch gleich für die folgenden beiden Nächte Quartiere bei Bekannten organisiert haben; der weiße Reiter von Aubrac, der zum Abendessen in seine Scheune einlud oder das selbstverständliche Essen in mehreren Gängen mit Familienanschluss, das uns in St. Romain bereitet wurde.
Allerdings gibt es auch die Erfahrung des Camino in Spanien, wo Pilgern zum Massenphänomen wird, so dass jeder individuelle Kontakt zwischen Quartierleuten und Pilgern unmöglich ist.
„Ein Segen sollst du sein…“ (Gen 12,2)
Nicht weniger wichtig als Unterkunft und Verpflegung sind geistliche Momente, die einem auf dem Weg begegnen und der Seele Nahrung geben. Der feierliche Pilgersegen in Conques, dass ein Pfarrer in der Messe die Gläubigen bittet, doch für die heute anwesenden Pilger mit zu beten und sie auf dem weiteren Weg im Gebet zu begleiten; so manches Pilgerzeichen am Wegrand, ein freundliches „Adieu“ oder extra vorbereitete Segensworte zum MItnehmen sind mindestens so wichtig wie Mittagessen und ein Bett. Auch hier zeigte sich Frankreich erheblich aufmerksamer als Spanien, was sicherlich mit der Masse der Pilger zu tun hat.
Der Weg ist das Ziel ???
Pilger ist man auf dem Weg.
Doch ohne das Ziel ist der schönste Weg und die besten Erfahrungen nichts.
Der Pilgerweg gewinnt seinen Wert erst im Blick auf das Ziel.
Am Ziel tut sich zunächst die Erfüllung des Angekommenseins auf,
dem aber bald das Gefühl einer Leere und neuen Orientierungslosigkeit folgt.
Wohin jetzt?
Dem (vorläufigen) Am-Ziel-Sein wird sicher bald ein neuer Weg mit neuem Ziel folgen…